Für einen nachhaltigen Wohnungssektor in Europa
Die Europäische Umweltagentur kritisiert den aktuellen Zustand des europäischen Gebäudebestands und fordert eine nachhaltige Transformation. Dazu haben 17 Organisationen ein Manifest für den sozialen und ökologischen Umbau des Wohnungssektors in Europa veröffentlicht. Eine neue wissenschaftliche Untersuchung vergleicht die gängigen Gebäudezertifikate mit der europäischen Klimapolitik.
EEA-Report 09/2024
Die Europäische Umweltagentur (EEA) hat in einem am 30. September erschienenen 86-seitigen Bericht den aktuellen Zustand des europäischen Gebäudebestands bewertet und fordert eine einheitliche politische Strategie für Gebäude, die den gesamten Lebenszyklus abdeckt und sowohl Umwelt- als auch Klimaaspekte einbezieht. Der Gebäudebestand sei mit mehr als 30 Prozent des ökologischen Fußabdrucks der EU der Bereich mit den größten negativen Umweltauswirkungen in der Europäischen Union, sowohl in Bezug auf das Klima als auch auf den Umweltschutz. „Die Renovierung bestehender Gebäude mit nachhaltigen Materialien bei gleichzeitiger Verbesserung der Klimaresistenz und der Zusammenarbeit mit der Natur“ seien von „zentraler Bedeutung“, um bis 2050 klimaneutral zu wirtschaften.
EEA fordert Vorrang für Renovierung
"Gesellschaftliche Trends wie eine alternde Bevölkerung, zunehmender Wohlstand und ein sich veränderndes Klima" übten Druck auf den Gebäudebestand aus. Daher gewinne die Nachhaltigkeit von Gebäuden in Europa über den gesamten Lebenszyklus zunehmend an Bedeutung, weil in jeder Phase vom Bau bis zum Abriss unterschiedliche Umweltauswirkungen entstehen. "Die Renovierung und die Verwendung von Bauprodukten mit geringen Umweltauswirkungen sollten im Gebäudesystem der Zukunft Vorrang haben. Ein geringerer Energieverbrauch und die Widerstandsfähigkeit gegenüber dem Klimawandel sind wesentliche Merkmale des Sektors in der Zukunft." Zur Förderung der biologischen Vielfalt sollten auch naturnahe Lösungen, Grünflächen, begrünte Dächer und Vegetation in die Planung einbezogen werden. "Ein nachhaltiger Bausektor sollte erschwinglichen Wohnraum für alle schaffen." Dieses Ziel unter anderem durch Subventionen für Gebäuderenovierungen und -modernisierungen unterstützt werden, um nachhaltige Gebäude jetzt und in Zukunft erschwinglicher zu machen.
Das sind die Kernaussagen des EEA-Berichts:
- Vorrangige Renovierung bestehender Gebäude, um der Nachfrage nach zusätzlicher Nutzfläche gerecht zu werden und den EU-Gebäudebestand umzugestalten;
- Planung von kreislaufgerechten Neubauten, um die Ressourceneffizienz zu erhöhen und die Abfallmenge zu verringern;
- Vorrangige Verwendung von Bauprodukten mit geringen Umweltauswirkungen während ihres gesamten Lebenszyklus;
- Erleichterung des Übergangs zu umweltfreundlicher Energie durch Gebäude im Einklang mit den einschlägigen Rechtsvorschriften wie der Richtlinie über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden;
- Künftige Ausrichtung des Gebäudesektors auf die Widerstandsfähigkeit gegenüber dem Klimawandel, die Bereitstellung von Ökosystemleistungen und den Beitrag zur Regeneration der Natur und der biologischen Vielfalt;
- Übergang zu einem nachhaltigen EU-Gebäudesystem auf faire und integrative Weise.
Manifest: Praktische Maßnahmen für eine gerechte und widerstandsfähige gebaute Umwelt
Zeitgleich haben 17 zivilgesellschaftliche Organisationen aus Europa, darunter das Europäische Umweltbüro (EEB), die Organisation "Bauhaus der Erde" und die Organisation für Umweltstandards ECOS ein Manifest mit dem Titel "Praktische Maßnahmen für eine gerechte und widerstandsfähige gebaute Umwelt" in der EU veröffentlicht. Sie fordern im aktuellen Prozess der Konstituierung der EU-Kommission die Ernennung eines EU-Kommissars für Wohnungswesen, der sich sowohl mit sozialen als auch mit Klimafragen befassen soll. Dieses neue Amt soll auch Zuständigkeiten für die gesamte gebaute Umwelt umfassen zur Sicherung des europäischen Klimas und sozialer Gerechtigkeit. In dem Manifest werden im Unterschied zum Bericht der EEA wesentlich stärker soziale Themen angesprochen.
Wiederbelebung von Leerstand und soziale Schutzmaßnahmen
So kommt das Manifest gleich zu Beginn unter dem Motto "gerechte Transformation" auf die soziale Dimension der Wohnungsnot zu sprechen: "Die Verbesserung unseres ineffizienten Gebäudebestands ist von zentraler Bedeutung für jede Wirtschaft, die sich den Herausforderungen des Klimawandels, der Ressourcenknappheit und der steigenden Wohnkosten stellen will. Derzeit stehen in Europa 38 Millionen Wohnungen leer, und wir brauchen sofortige politische Vorgaben, um diese leerstehenden Gebäude so umzunutzen, dass sie den Gemeinschaften, für die sie gebaut wurden, angemessen dienen. Durch die Wiederbelebung leerstehender Flächen können wir die Verfügbarkeit von Wohnraum und kommunaler Infrastruktur leicht erhöhen und alten Gebäuden neues Leben einhauchen: Wir beleben unsere Regionen und bewahren gleichzeitig das kulturelle Erbe der EU. Angesichts der Tatsache, dass 39 % der EU-Bevölkerung in Gebäuden mit verrotteten Fensterrahmen oder Fußböden leben und 9,3 % es sich nicht leisten können, ihre Wohnungen im Jahr 2022 angemessen warm zu halten, würde eine vorrangige Renovierung und Sanierung unsere vorhandenen Ressourcen umverteilen und so Sicherheit, Wohlstand und Beschäftigung fördern."
Folgende Maßnahmen werden auf der Ebene der Regularien vorgeschlagen:
- Zügige Umsetzung der bestehenden EU-Maßnahmen für nachhaltiges Bauen durch die Mitgliedstaaten und angemessene Verschärfung im Einklang mit den EU-Klimazielen.
- Förderung der Anpassungsfähigkeit und Umnutzung von Gebäuden mit entsprechenden Indizes, obligatorischen Lebenszyklusanalysen und Audits für Abriss und Neubau, insbesondere bei den Kommunalverwaltungen.
- Integration der Umweltqualität in Innenräumen in die nationalen Gebäudesanierungspläne (NBRP), die auch passive Belüftung, Luftzirkulation und obligatorische Tests der Luftqualität in Innenräumen umfassen.
- Soziale Schutzmaßnahmen sollen bei der Umsetzung der EPBD (EU/2024/1275) im Vordergrund stehen, mit Anreizen zur Entwicklung nationaler Pläne, die auch vor Vertreibungen und der Umsiedlung prekärer Haushalte schützen.
- Verankerung des Kriteriums der Naturverträglichkeit und der Kreislaufwirtschaft bei der Bewirtschaftung kommunaler Grundstücke und Gebäude in den EU-Kriterien für ein umweltorientiertes öffentliches Beschaffungswesen (GPP) und Gewährleistung der Umsetzung der GPP-Verpflichtungen.
Bezahlbarer Wohnraum
Das Manifest sieht den Zugang zu bezahlbarem Wohnraum als "eines der wichtigsten Themen für Einzelpersonen, Familien und Gemeinschaften in Europa" an. "Wir brauchen ehrgeizige Maßnahmen für den europäischen Wohnungsbau, die dem Ausmaß der Herausforderung gerecht werden: die Deckung des Wohnungsbedarfs innerhalb der planetarischen Grenzen." Um den vor allem in den Städten stark gestiegenen Mieten und Wohnungspreisen zu begegnen, fordern die Manifest-Unterstützer die "Aufnahme verstärkter sozialer Kriterien auf der Grundlage von Menschenrechts-Standards in den Rahmen für nachhaltige Finanzen, einschließlich der EU-Taxonomie (2020/852/EU)". Es müssten soziale Garantien, die die Verwirklichung des Rechts auf Wohnen sicherstellen (z.B. Klima-Wohngeld), in die nationale Umsetzung der EPBD (EU/2024/1275) eingeführt werden. Außerdem müsste ein Sozialer Klimafonds bis 2026 eingeführt werden und daraus und aus dem Emissionshandelssystem Mittel für einkommensschwache Haushalte zur Durchführung von Renovierungsarbeiten und zum Einbau nachhaltiger Heizsysteme fließen. Zur Finanzierung all dieser Maßnahmen wird u.a. vorgeschlagen, alle bestehenden Fonds für Nachrüstung, Renovierung und angemessenen erschwinglichen Wohnraum in einem Budget zu bündeln, das gegebenenfalls unter öffentlicher Aufsicht von der Europäischen Investitionsbank verwaltet wird.
Arbeitsmarkt und berufliche Qualifikation
Im Manifest wird ebenfalls der Ausbau von beruflicher Qualifikation der Beschäftigten in der Bauwirtschaft gefordert. "Die Bauwirtschaft bietet heute 15 Millionen direkte Arbeitsplätze und trägt 9 % zum BIP der EU bei. Ohne angemessene Maßnahmen zur Sicherung ihrer Zukunft wird die Bauindustrie jedoch mehr als jeder andere Sektor in Mitleidenschaft gezogen werden. Es besteht die dringende Gefahr der Veralterung von Qualifikationen, und bis 2030 müssen mehr als 3 Millionen Arbeitnehmer neu qualifiziert werden. Darüber hinaus stellt die Überalterung der Arbeitskräfte im Baugewerbe ein kritisches Risiko dar. [...] Ohne menschenwürdige Arbeitsbedingungen für die Bauarbeiter können wir keine guten Wohnungen bauen." Hier könne die EU auf eine Reihe von Rechtsvorschriften zu Beschäftigungsrechten und -standards, wie die Europäischen Standards für die Nachhaltigkeitsberichterstattung (ESRS), sowie auf Initiativen im Rahmen der Qualifikationsagenda verweisen und habe die Möglichkeit, in allen Mitgliedstaaten ehrgeizige Standards zu setzen.
Baumaterialien, Klimaschutz und Kreislaufwirtschaft
Derzeit ist der Bausektor für mehr als ein Drittel der europäischen Materialabfälle wie Beton, Ziegel, Holz, Glas, Metalle und Kunststoffe verantwortlich. Dazu leide die Qualität des Wohnungsbestands unter veralteten Baumethoden und schlechter Qualität der Materialien, was dazu führt, dass 75 % der Gebäude energieineffizient sind. Um hier Abhilfe zu schaffen, fordert das Manifest vor allem die Förderung der Kreislaufwirtschaft. Die EU ist für diesen Bereich zuständig und verfügt derzeit über einen Rechtsrahmen, einschließlich der Abfallrahmenrichtlinie (2018/851/EU) und der Bauprodukteverordnung (2011/305/EU). Das sollte nach Ansicht des Manifests ergänzt werden durch die Einführung eines schrittweisen Verbots der Deponierung von nicht gefährlichen Bau- und Abbruchabfällen und Nebenprodukten, die Beschleunigung der Einführung des Whole-Life-Carbon-Konzepts (WLC) und die Ausweitung dieses Konzepts über den Neubau hinaus, um die Klimavorteile der Renovierung zu berücksichtigen. Ferner wünschen sich die Unterzeichner eine Aktualisierung der Kriterien der EU-Taxonomie (2020/852/EU), um Überlegungen zum Gesamtkohlenstoffausstoß für neue Gebäude und Kriterien zur Anerkennung der Vorteile von Renovierungsmaßnahmen einzubeziehen. Die in der neuen Bauprodukteverordnung (CPR) von 2024 enthaltenen Umweltbestimmungen, wie z. B. die Verwendung von Umweltproduktdeklarationen, sollten ebenso schnell umgesetzt werden wie die Veröffentlichung von Fahrplänen für die Kreislaufwirtschaft im Bauwesen im Rahmen der Abfallrahmenrichtlinie (Neufassung 2023), in denen die Einführung nationaler Maßnahmen zur Kreislaufwirtschaft und die Entwicklung des Sektors hin zu einem funktionierenden Kreislaufwirtschaftssystem im Detail beschrieben werden.
Gebäudezertifizierungen und die EU-Taxonomie
Um die Klimaziele des Pariser Abkommens und die ehrgeizigen Vorgaben der EU zu erreichen, muss der Bausektor seine Umweltbilanz signifikant verbessern. In der EU soll die sogenannte EU-Taxonomie dazu beitragen, Bauprojekte nachhaltiger zu gestalten und Investitionen in umweltfreundliche Aktivitäten zu lenken. Auch die aktualisierte Bauproduktenverordnung (CPR) nimmt Schwerpunkte wie etwa Kreislaufwirtschaft und Biodiversität daraus auf. Schon seit vielen Jahren dienen Gebäudebewertungssysteme den wirtschaftlichen Akteuren als Orientierung und zunehmend auch staatlichen Stellen als Grundlage für Fördermaßnahmen wie etwa in Deutschland QNG oder in Österreich Klimaaktiv.
Doch wie gut erfüllen bestehende, renommierte Gebäudezertifizierungssysteme die Anforderungen der Taxonomie? Darüber informierte der natureplus-Partner IBO in seinem jüngsten Newsletter. Im Rahmen einer Bachelorarbeit hatte die österreichische Studentin Michelle Niedermayer vom FH Campus Wien sechs der bekanntesten internationalen – LEED, BREEAM, DGNB - und österreichischen Systeme - klimaaktiv, TQB und IBO ÖKOPASS – auf ihre Konformität mit der EU-Taxonomie im Bereich Neubauten im Wohnbausektor geprüft. Mit Stand Juni 2024 zeigt diese Arbeit sehr deutlich: Unterschiedliche Berechnungsgrundlagen und Bewertungsmethoden, wie sie in den untersuchten Zertifizierungssystemen zu finden sind, erschweren die Vergleichbarkeit und Konsistenz der Nachhaltigkeitsbewertungen.
Was fordert die EU-Taxonomie?
Um als „nachhaltig“ zu gelten, muss eine wirtschaftliche Tätigkeit gemäß der EU-Taxonomie signifikante Beiträge zu mindestens einem der festgelegten Umweltziele leisten, keine erhebliche Schädigung der anderen Umweltziele (DNSH-Kriterien) verursachen und soziale Mindeststandards einhalten. Die sechs Umweltziele, die in der EU-Taxonomie definiert sind, umfassen:
- Klimaschutz
- Anpassung an den Klimawandel
- Nachhaltige Nutzung und Schutz von Wasser- und Meeresressourcen
- Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft
- Vermeidung und Verminderung von Umweltverschmutzung
- Schutz und Wiederherstellung der biologischen Vielfalt und der Ökosysteme.
Hinsichtlich der technischen Bewertungskriterien stellt die EU-Taxonomie hohe Anforderungen an nachhaltige Neubauten. Der Primärenergiebedarf (PEB) eines Gebäudes darf maximal 36,9 kWh/m².a betragen, wobei ausschließlich der nicht erneuerbare Anteil berücksichtigt wird. Zusätzlich ist für Neubauten die Vorlage eines Ausweises zur Gesamtenergieeffizienz (EPC) verpflichtend. Für Gebäude mit einer Nutzfläche von über 5.000 m² sind Tests zur Luftdichtheit und Thermografie erforderlich. Hier muss auch das Treibhauspotenzial (GWP) ermittelt und über einen Zeitraum von 50 Jahren offengelegt werden. Darüber hinaus müssen mindestens 70 % der bei Bau- und Abbrucharbeiten anfallenden nicht gefährlichen Abfälle gemäß den Prinzipien der Kreislaufwirtschaft recycelt oder wiederverwendet werden. Die Konstruktionen müssen Anforderungen an Ressourceneffizienz, Flexibilität und Demontierbarkeit entsprechen, wie es etwa die ISO 20887 fordert. Die Nutzung bestimmter gefährlicher Stoffe ist untersagt oder stark eingeschränkt. Während der Bauphase sind Maßnahmen zur Minderung von Lärm-, Staub- und Schadstoffemissionen erforderlich. Neubauten dürfen zudem nicht auf Flächen errichtet werden, die von hoher ökologischer Bedeutung sind.
DGNB mit Abstand Vergleichssieger
In der genannten Untersuchung erwies sich das Gebäudezertifizierungssystem der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) als einziges nahezu vollständig konform mit den Anforderungen der EU-Taxonomie. DGNB erfüllt insgesamt 11 der 13 geprüften Kategorien vollständig (siehe Tabelle), wobei die restlichen zwei aufgrund von Vergleichbarkeits-Problemen keine Übereinstimmung aufweisen können. "Dies macht DGNB zum führenden System in Bezug auf die Übereinstimmung mit der EU-Taxonomie", so das Fazit. Die Gründe für das schlechte Abschneiden der anderen Systeme liegen häufig in einer abweichenden Methodik, die dann einen Vergleich nicht zulässt, aber ebenso häufig daran, dass die Systeme schon älter sind und noch eines Updates bedürfen, um Themen wie Kreislaufwirtschaft, Schadstoffbelastungen und Biodiversität angemessen zu berücksichtigen.
Um ein gutes System der Gebäudezertifizierung breit in die Anwendung zu bringen, müssen aber auch die Kapazitäten und Fachkenntnisse auf Seiten der Prüfer vorhanden sein. Darauf weist das IBO in einer Stellungnahme hin. Derzeit schränkt die EU die Prüfung von Taxonomie-Kriterien auf die Wirtschaftsprüfer ein. Dies lässt nach Meinung des IBO "außer Acht, dass für die Beurteilung nachhaltiger Bauweisen profundes Sachwissen nötig ist". Der TÜV-Verband hat im September 24 einen offenen Markt für die Prüfung von Nachhaltigkeitsberichten in Deutschland gefordert, das sollte auch für die Prüfung der EU-Taxonomie gelten. "Doch der Markt ist spürbar in Bewegung und der Nachhaltigkeit wird deutlich mehr Platz eingeräumt als je zuvor," resümiert Barbara Bauer vom IBO und Vizepräsidentin von natureplus.